Wenn wir uns in eine Liebesbeziehung begeben, treten wir eine Reise an, auf der wir lernen, mit emotionalen Abhängigkeiten in der Paarbeziehung umzugehen. Es gibt verschiedene Etappen auf dem Weg, welche zu bewältigen sind. Nicht alle Paare lassen sich auf diese Prozesse ein. Denn es ist anstrengend die Übergänge zur nächsten Phase zu gestalten und zu meistern. Meist kommen die beiden zu einem dieser Zeitpunkte zu mir in die Beratung, also in einem Übergang, dann, wenn die Hindernisse gross und die Sackgassen unverkennbar sind.
Die erste Station auf der Reise ist die Verliebtheitsphase. Die Liebenden schenken sich Anerkennung, Begeisterung, Bestätigung, Sicherheit. Das Gegenüber steht im Mittelpunkt, es fühlt sich perfekt an. Doch diese Phase ist irgendwann zu Ende, weil die Bedürfnisse nicht mehr eins zu eins zusammenpassen. Zu diesem Zeitpunkt treten oft Spannungen auf. Die Abhängigkeit vom Verhalten des anderen wird spürbar, und das ist schmerzhaft. Man ist verunsichert, versucht, die Konflikte zu reduzieren. Zum Beispiel, indem man dem Gegenüber entgegenkommt und Kompromisse macht.
Was folgt, ist die zweite Station, die Enttäuschung: «Mein Lieblingsmensch ist nicht mehr so wie am Anfang, ich werde nicht verstanden.» Beide wünschen sich die erste Verliebtheit zurück. Sie versuchen, die Situation zu verbessern, sind aber zunehmend frustriert, weil es nicht funktioniert. In dieser Phase wird mit vielen Mitteln versucht, das Gegenüber zu verändern: «Gib endlich nach, und mach es so, wie ich es brauche, dann passt es wieder für mich.» Die emotionale Abhängigkeit vom anderen wird hier sehr deutlich. «Nur wenn ich bekomme, was ich brauche, kann ich wieder ruhiger werden.» An dieser Station hält sich das Paar unter Umständen sehr lange auf, und es kann zu vielen Konflikten kommen. Vorwurf, Angriff, Rechtfertigung und Rückzug – jedes Paar hat einen eigenen Konfliktkreislauf, in dem es feststeckt. Der ist anstrengend, tut weh, man fühlt sich ohnmächtig. Wenn es dann nicht zur Trennung kommt, geht es weiter zur nächsten Station: Die Phase der Distanzierung.
Nach dem langem Ringen, das Gegenüber passend zu machen für ein Wir, richtet sich der Blick auf das Selbst. Fragen kommen auf: «Wer bin ich? Wer bin ich, unabhängig von dir? Was macht mich aus?» Wenn das Paar dann noch gemeinsam weiterreist, folgt die Reflexion. «Wie kann ich meinen eigenen inneren Kämpfen auf die Spur kommen? Haben diese mehr mit mir selbst zu tun als mit meinem Gegenüber? Welche Wertschätzung brauche ich? Warum bekomme ich die nicht vom Gegenüber? Oder ist das gar nicht möglich, weil ich sie mir selbst geben muss?»
Nach diesem Prozess kann sich das Paar möglicherweise neu begegnen und die Andersartigkeit des Gegenübers respektieren. Es herrscht Wohlwollen, auch in konflikthaften Situationen. Man lacht übereinander und geht souverän und bewusst mit der gegenseitigen Abhängigkeit um. Denn klar ist: Liebe bedeutet auch Abhängigkeit. Wissen aber beide aber über sich selbst besser Bescheid wissen, sind sie dem weniger ausgeliefert. Der amerikanische Paartherapeut David Schnarch nennt dies ein «stabiles Selbst». Man kann sich selbst beruhigen und für eine angemessene Reaktion entscheiden. Man macht bei Schwierigkeiten nicht automatisch den Lieblingsmenschen verantwortlich, sondern stellt sich den eigenen Verunsicherungen und Ängsten.
Diese lange Reise ist ein Wachstumsprozess, der es ermöglicht, gute Lösungen für Konflikte zu finden. Beide haben nun die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, für die eigenen Anliegen einzustehen, Verantwortung zu übernehmen für ihre Bedürfnisse und Ziele. Zudem sind sie bereit, auch schwierige Themen in der Paarbeziehung anzugehen, denn die wird es weiterhin geben. So agiert das Paar unabhängig in der Abhängigkeit, die eine verbindliche Paarbeziehung mit sich bringt.
Katrin Lukas, Paarberatung und Mediation im Kanton Zürich, Beratungsstelle Bülach