Bindung und Zugehörigkeit auf der einen Seite und Autonomie und Selbstbestimmung auf der anderen Seite sind fundamentale Bedürfnisse des Menschen. Die Entwicklung einer guten Balance zwischen diesen beiden Polen bildet die Basis für langfristige Beziehungen, in der beide Partner:innen ihre Persönlichkeit entwickeln und gleichzeitig Verbundenheit und Anziehung zunehmen.

1.    Bindung und Zugehörigkeit.

Gemäss der Bindungstheorie gibt es bei uns Menschen ein natürliches Bedürfnis nach einer engen emotionalen Verbindung mit einer Bezugsperson. Dies ist auch die Grundlage für Paarbeziehungen.

Die meisten Menschen streben also danach eine nahe emotionale und dann auch körperliche, sexuelle Verbindung mit einer anderen Person einzugehen. Durch emotionale Nähe kann das Gefühl entstehen, sicher und geschützt zu sein. Je nachdem, wie unsere Haupt-Bezugspersonen in unserer Kindheit für uns da sein und auf unsere Bedürfnisse eingehen konnten, bildete sich unser Bindungsverhalten aus.

Wurde diesem Grundbedürfnis nach Verlässlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit in frühen Jahren der Kindheit nicht adäquat begegnet – wurde das Kind in seinen Bedürfnissen gar nicht oder zu lange nicht gehört, wurde es über seine Bedürfnisse hinaus gefüttert oder inadäquat körperlich behandelt oder gar seine Integrität beschädigt – all dies hat Auswirkungen auf das Grundvertrauen und auf das Vertrauen in menschliche Beziehungen und somit zum “Liebes-Verhalten” der erwachsenen Person.

Innere Leitsätze, Wünsche, Bedürfnisse, die wir mit in die Paarbeziehung hineintragen.

  • Ich möchte sicher sein, dass du da bist für mich, wenn ich dich brauche.
  • Ich möchte mich auf dich verlassen können.
  • Ich vertraue dir.

2.    Autonomie und Selbstbestimmung

Auf der anderen Seite der Skala liegt Autonomie und Selbstbestimmung. Auf der Basis von Bindung und Sicherheit zeigt sich beim kleinen Kind mit zunehmenden Fähigkeiten das zweite Grundbedürfnis “sich selber sein zu dürfen”.

In dem Masse, wie es seinen eigenen Willen entdeckt und seine Fähigkeiten in dieser Welt ausprobiert, entdeckt und erschafft es seine eigene Persönlichkeit und damit seine Autonomie und Selbstbestimmung.

Bei diesem Pol handelt es sich also auch um den freiheitlichen Aspekt des Menschseins. Wir möchten uns als Menschen wie auch als Beziehungspartner frei und in unserer Individualität respektiert fühlen. Dieser Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit, der Drang, die Welt zu erkunden und selbst entscheiden zu können wird bei vielen Menschen in der Zeit der Pubertät besonders stark – und gleichzeitig ist dies die Zeit, in der auch die ersten intimen Beziehungen eingegangen werden.

So sind diese beiden Pole immer gleichzeitig aktiv – einer im Vordergrund, der andere im Hintergrund. Ist genug Nähe und Sicherheit da, wächst das Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit. Ist genug Selbstbestimmung und Unabhängigkeit da, wächst das Bedürfnis nach Nähe und Intimität.

 

3.    Was beeinflusst im Lauf der Zeit unser Bedürfnis nach Bindung und Autonomie?

 

3.1.    “Rollenspiele” in Familiensystemen

Innerhalb von Familiensystemen übernehmen Kinder bestimmte Rollen. Je nach Persönlichkeit und Fähigkeiten und nach dem Platz innerhalb der Geschwister-Reihe bilden sich bei Kindern entsprechende Anpassungs- und Durchsetzungsverhalten heraus. Ein Kind z.B. übernimmt die Rolle der Tüchtigen und Verantwortungsvollen, ein anderes übernimmt die Rolle der Prinzessin (z.B. Papas kleine Prinzessin, die den Papa um den Finger wickeln kann). Ein anderes Kind macht den Clown, weil es dadurch Anerkennung erhält und ein weiteres “spielt” Rebell, damit es gesehen wird.

Auch diese rollentypischen Verhaltensweisen tragen wir als Erwachsene in unsere Liebesbeziehung hinein.

Zusätzlich zu diesen Rollen, gibt es in allen Familiensystemen auch unsichtbare Elemente, welche die persönliche Entwicklung der Kinder mitbestimmen. So prägt u.a. die gelebte Dynamik (Macht-Ohnmacht) zwischen Mutter und Vater das Rollenverständnis und das Rollenbild, welches wir dann in der eigenen Beziehung umsetzen.

Weitere unsichtbare Energien stammen aus ungelösten Konflikten, aus Spannungen und unverarbeiteten schmerzvollen Erfahrungen aus der Familiengeschichte. Kinder nehmen unerlöste belastende Familienthemen in sich auf und machen diese schweren Themen auch zu ihren eigenen “Lebensproblemen”.

Und selbstverständlich haben auch die offensichtlichen Verhaltensweisen der Familienmitglieder, eine Wirkung auf die Kinder und somit auf das Liebes-Verhalten der erwachsenen Person. Die direkte oder die indirekte Wut der Eltern prägt das Kind im Umgang mit Wut und Aggression. Die “Liebesprache” der Eltern prägt die Sensorik für Liebessignale.

Die Unselbständigkeit eines Elternteils kann als “normal” übernommen und zur eigenen unselbständigen Lebenshaltung werden. Etc.

3.2.    Die Bedeutung von schmerzvollen Erfahrungen

So prägen die Beziehungs- und Bindungserfahrungen in der eigenen Kindheit wie auch die Geschichte der Herkunftsfamilien das Bindungs- und Liebesverhalten von erwachsenen Menschen.

Insbesondere sind die schmerzvollen Erfahrungen besonders prägend, denn wir alle wollen Schmerz vermeiden. So lernen wir aus schmerzvollen Erfahrungen, wie wir diese künftig vermeiden können. Wir passen unser Verhalten entsprechend an, damit wir nicht wieder dieselben Schmerzen erleben müssen.

Mit diesen angepassten, schmerzvermeidenden und unbewussten Verhaltensweisen gehen wir in unsere Liebesbeziehungen hinein.

Im Körpergedächtnis sind zwar alle Erfahrungen abgespeichert, aber im Grosshirn stehen sie uns kaum zur Verfügung, denn was wir in den ersten ca. 6 Lebensjahren erfahren und an inneren Entscheidungen getroffen haben ist uns kaum bewusst.

 

4.        Wie zeigt sich das Bedürfnis nach Bindung und Autonomie in der Beziehung

 

4.1.    Die Phase der Verliebtheit und Einigkeit

Aus dieser Unbewusstheit heraus “fallen” wir in die Verliebtheitsphase einer neuen Beziehung hinein. Unser unbewusstes Streben scheint bei der Partnerwahl entscheidend mitzubestimmen.

In der Anfangsphase fühlt sich alles gut an, denn die beiden aufeinandertreffenden Verhaltensweisen ergänzen sich in wunderbarer Weise, sodass sich beide rundherum glücklich fühlen.

Doch nach einiger Zeit (nach spätestens 1-3 Jahren) der Verbundenheit und Verliebtheit, macht sich das Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung immer deutlicher bemerkbar und die Auseinandersetzungen beginnen.

4.2.    Die Phase der Distanzierung und Entzweiung

Die Unterschiedlichkeiten der beiden Verliebten zeigen sich immer mehr, zudem nimmt der Reiz des Neuen langsam ab und die Alltags-Gewohnheit hält Einzug. Die Dinge aus dem Hintergrund kommen in den Vordergrund und es kann sich anfühlen, wie wenn die andere Person nicht mehr die Person sei, in die man sich verliebt hatte. Man kann sich betrogen fühlen und es kann aussehen, wie wenn die Partner:In in der Phase der Verliebtheit nur eine Rolle gespielt hätte.

Viele verlassen in dieser Phase die Beziehung, um gemäss ihrem inneren Schutzprogramm nicht wieder mit schmerzvollen Erfahrungen konfrontiert zu werden.

4.3.    Der Kampf um Bindung und Autonomie

Immer wieder entdecken wir in Liebespartnerschaften, dass die beiden Partner ähnliche Bindungsverletzungen in ihrem unbewussten Speicher abgelegt haben, dass sie jedoch in entgegengesetzter Weise mit diesen Verletzungen umgegangen sind.

In der Regel versucht eine von beiden Personen die Verletzungen zu vermeiden, indem sie sich sehr auf den Bindungsaspekt fokussiert und in der Partnerschaft für das WIR kämpft. Sie hat Angst davor, eigenständig und selbstbestimmt ihr Leben zu leben und möchte deshalb lieber alles zu zweit entscheiden und sich ganz in der partnerschaftlichen Nähe sicher und geborgen fühlen.

Die andere Person ringt darum, sich selber sein zu dürfen, genügend Raum zu haben, um eigenen Interessen und Bedürfnissen nachgehen zu können. Sie befürchtet, zu wenig Raum für ihre Individualität zu haben, wenn sie sich ganz auf die Beziehung einlässt. So vermeidet sie immer wieder Situationen mit grosser Intimität oder sie hält diese nur ganz kurze Zeit aus.

4.4.    Nähesucher:in und Distanzhalter:in

Die Distanzierung verletzt die Person, welche die Nähe sucht und braucht. Die Nähe stresst die Person, welche Angst vor Individualitätsverlust hat.

So treiben sich der/die Nähesucher:in und der/die Distanzhalter:in im Kreis herum und stossen sich gleichzeitig immer wieder ab mit ihren schmerz-vermeidenden Verhaltensweisen – solange, bis sie sich der Sache stellen und lernen, diesen Konfliktkreis zu stoppen und über die eigenen reflexartigen Abwehrmuster hinauszuwachsen.

So ist der die Nähesucher:in gefordert, ihre innere Eigenständigkeit zu entwickeln und der/die Distanzhalter:in ist gefordert die Angst vor der Nähe aufzulösen, sodass sie miteinander eine neue Dynamik von genügend Nähe und genügend Eigenständigkeit leben können.

Es gibt durchaus auch geschlechtstypische Verhaltensweisen. So tendieren viele Männer eher zum Aspekt der Autonomie und Selbstbestimmung, während viele Frauen den Pol der Verbundenheit und des Wir anstreben. Selbstverständlich gilt dies nicht für alle Männer und Frauen. Auch Männer können die Rolle des Nähesuchers innehaben und Frauen können die Distanzhalterin sein.

4.5.    Nähe-Vermeider und Nähe-Verlust

Für einige Menschen ist es schwierig emotionale Nähe und Verbundenheit zuzulassen, sie haben das Gefühl sich selbst zu verlieren, sobald sie einer Person nah sind. So können sie sich kaum auf eine verbindliche Beziehung einlassen.

In langjährigen Beziehungen, wo die Nähe einmal gelebt wurde und die Partner:innen keine emotional nahe Beziehung mehr führen, da diese nicht gepflegt wurde, kann diese Bindung auch verloren gehen.

4.6.    Autonomie-Vermeider und Autonomie-Verlust

Für einige ist es schwierig die Autonomie und Selbstbestimmung zu leben. Diese Menschen leben sehr in und für die Beziehung und stellen ihre persönlichen Bedürfnisse hinten an. Sie pflegen kaum mehr eigene Interessen und alles dreht sich um den/die Partner:in, sind ständig auf den Kontakt zum anderen, deren Bestätigung und Übereinstimmung, angewiesen.

Auf Dauer wird dies zu einer starken Einseitigkeit führen und die Persönlichkeits-Entwicklung wie auch die Beziehungs-Entwicklung behindern.

 

Theorie zu Fachtagung 2023 | Vernetzen & Begegnen, Themenraum Bindung & Autonomie

Katrin Lukas Paarberaterin , Evrim Yilmaz, Paarberaterin und Viktor Arheit, Paarberater