Meine Frau und ich sind seit 47 Jahren verheiratet und führten bislang eine gute Ehe. Jeder hatte seine Zuständigkeiten. Während meine Frau den Haushalt besorgte, was sie sehr erfüllte, war ich rund um das Haus aktiv. Doch seit sie vor einem halben Jahr am Knie operiert wurde, ist sie gesundheitlich stark eingeschränkt und kann sich nur noch am Rollator fortbewegen. Sie hat starke Schmerzen und kann den Haushalt nicht mehr erledigen. Ich unterstützte, wo ich nur kann, da ich meine Frau liebe. Doch ihre schlechte Laune und das Nörgeln kann ich oft kaum ertragen. Ich leide unter fehlender Dankbarkeit und frage mich, ob ihre Liebe innert kürzester Zeit so schwinden kann?

Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie unter der gegenwärtigen Situation sehr leiden. Dass Sie Ihre Frau unterstützen, ist ein Zeichen Ihrer Wertschätzung und Liebe. Es ist verständlich, dass Sie die Kritik schmerzt, die Sie bei Ihren Bemühungen erfahren. Vermutlich ist dieser Schmerz umso grösser, weil sich das Verhalten Ihrer Frau in den letzten Monaten stark verändert. Vielleicht können Sie sie etwas besser verstehen, wenn Sie versuchen, sich in sie hineinzuversetzen: Halten Sie sich selbst in einem guten Moment (z. B. wenn Ihre Frau schläft) am Rollator fest. Versuchen Sie, jene Schmerzen nachzuspüren, von denen Ihre Frau berichtet. Wie fühlt es sich in dieser Haltung an, all die Dinge nicht tun zu können, die Sie bislang mit Sinn erfüllten? Wie wäre es – immer noch aus dem Blickwinkel Ihrer Frau – auf Hilfe angewiesen zu sein? Welche Gefühle kommen auf – Ärger, Wut, Hilflosigkeit? Lassen Sie nun die Griffe wieder los…. . Was löst dieses Erleben in Ihnen als Ehemann aus? Dieser Perspektivenwechsel ist eine gute Grundlage für ein gemeinsames Gespräch. Tauschen Sie sich darüber aus, wie Sie beide die Situation erleben und was jeder braucht. Geben Sie Ihrer Frau Zeit, ihre Einschränkungen zu akzeptieren. Sorgen Sie gut für sich, indem Sie Dinge tun, die Ihnen Freude bereiten. Schaffen Sie Entlastung (z. B. Spitex). Krankheit ist ein kritisches Lebensereignis, welches es gemeinsam zu bewältigen gilt. Die vielen guten gemeinsamen Jahre, die Sie bereits erlebt haben, mögen Sie darin ermutigen.

Werner Klumpp, Paarberatung und Mediation, Kanton Zürich, Beratungsstelle Bülach

Dieser Artikel wurde am 24.03.21 im Stadtanzeiger Opfikon-Glattbrugg veröffentlich